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Mit ihrer Dokumentation ist Klaus Schnitzler (l.) und Karl-Josef Nolden ein berührendes Zeitzeugnis gelungen. [Foto: bwp]

Kindertransporte – überlebt, aber nicht überwunden

Kreuzau, Drove: Einem brisanten Thema widmet sich die neue Publikation des Geschichtsvereins Drove-Boich-Thum: Unter dem Titel „Kindertransporte – überlebt, aber nicht überwunden“ zeichnen Karl-Josef Nolden und Klaus Schnitzler das Schicksal der kleinen Helga Leiser aus Drove nach. Im Juni 1939, ein halbes Jahr nach der Progromnacht, wird das 14-jährige, jüdische Mädchen von ihren Eltern Billa und Isidor Leiser mit verzweifelter Entschlossenheit in einen Zug gesetzt, um sie nach England in Sicherheit zu bringen. Helga ist somit eins der 10.000 jüdischen Kinder, die durch die Kindertransporte vor Verfolgung und Vernichtung gerettet werden konnten. Auf der Insel überlebt Helga den Krieg – ihre Eltern und Eifeler Verwandten wird sie jedoch nie wiedersehen. 1941 werden Leisers gemeinsam mit den anderen jüdischen Nachbarn zunächst für elf Monate in einem Drover Haus interniert, dann 1942 nach Polen verschleppt und dort von den Nationalsozialisten ermordet.

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Kurz vor ihrer Abfahrt nach England entstand dieses Foto der damals 14-jährigen Helga Leiser. [Foto: privat]

Bis der Briefkontakt abbricht, wird Helga – von der Familie liebevoll „Hümmelein“, „Tierchen“ oder „Goldene Mau“ tituliert – auch in ihrer neuen Heimat über das Drover Leben informiert. Mindestens zweimal in der Woche schreiben ihre Eltern. Schildern, wer im Dorf geheiratet oder Nachwuchs bekommen hat, wer krank oder gestorben ist. Zudem gibt es Aufmunterung und Trost, sowie liebevolle, schriftliche Erziehungsmaßnahmen. Fotos und kleine Geschenke werden hin- und hergeschickt und Papa Isidor, von Beruf aus Bäcker, versorgt sein „liebes Hüppetchen“ regelmäßig mit heimischem Schwarzbrot.

Sobald ein Brief von Helga in Drove eintrifft, kommen Familie, Freunde und Nachbarn zusammen und nehmen Anteil an den Erlebnissen der kleinen Exil-Eifelerin. Ihr Erzählstil wird von allen gelobt – manchmal jedoch die krakelige Handschrift oder Tintenkleckse auf dem Blatt gerügt. Doch immer sind ihre Eltern stolz auf die schulischen Erfolge ihres „goldenen Liebchens“.

Als die politische Lage angespannter wird, spielen Billa und Isidor die drohende Gefahr ihrer Tochter zuliebe herunter. Im März 1940 schreiben sie: „Jede Woche kommt Frl. Hartoch hierhin, damit wir Englisch lernen. Wir hoffen, Dich mit der Zeit noch einholen zu können.“ Immer wieder bitten sie Helga, sich in England um Fürsprecher zu kümmern, denn um auswandern zu können, ist eine „Bürgschaft“ nötig. Doch alle Versuche der jungen Helga, ihre Eltern nachkommen zu lassen, scheitern. Helgas Briefe und Postkarten in die Heimat sind nach der Verschleppung ihrer Eltern nicht mehr auffindbar, aber aus den Antwortschreiben der Familie lässt sich auf die Inhalte ihrer Briefe schließen.

„Vom Geschichtsforscher Stefan Kahlen haben wir letztes Jahr das Bündel Briefe bekommen“, schildert der 82-jährige Karl-Josef Nolden die Entstehungsgeschichte der Dokumentation. In akribischer Recherche haben er und Klaus Schnitzler (73) die rund dreihundert Briefe an Helga Leiser transkribiert, analysiert und in zeitlichem Kontext sortiert. Außerdem nahmen sie Kontakt zu Mimi Rose, einer amerikanischen Verwandten von Helga Leiser, auf, die sich bis zu deren Tod 2011 rührend um die alte Dame kümmerte.

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Im August 1942 bricht der Briefkontakt ab. [Repro: privat]

Während der Kriegsjahre wird der Briefkontakt zwischen Eltern und Tochter immer schwieriger. Auch die Zensur bereitet große Probleme. Deshalb werden Sammelbriefe zunächst zu Verwandten in Dänemark oder der Schweiz geschickt, von wo sie weiter nach England geleitet werden. Unverfänglich beginnen die Botschaften an Helga mit „Liebe Tante Helene“. Als letztes Lebenszeichen wird am 16. August 1942 eine Postkarte aus Polen abgeschickt.

Nach Kriegsende wandert die mittlerweile 22-jährige Helga 1947 nach Amerika aus. Nur einmal noch – im Sommer 1960 – kehrt sie während einer Europareise für anderthalb Tage in ihr Heimatdorf Drove zurück. In ihrem Reisebericht vermengen sich Kindheitserinnerungen und distanzierte Zustandsbeschreibungen…

Ein lesenswertes, berührendes Buch, das – anhand einer Eifeler Familie – das Schicksal von Millionen Juden in Erinnerung ruft. Was nach der Lektüre bleibt, ist das Gefühl unendlicher Elternliebe. Billa und Isidor Leiser trennen sich von ihrer einzigen, vergötterten Tochter, um sie vor Verfolgung und Ermordung durch die Nationalsozialisten zu retten. Ähnlich mag es heute vielleicht syrischen Familien gehen, die ihre minderjährigen Kinder alleine auf eine lebensgefährliche Reise nach Europa schicken…

Das Buch „Kindertransporte – überlebt, aber nicht überwunden“ ist bei Hahne & Schloemer erschienen (ISBN: 978-3-942513-34-0) und kostet 15,95 Euro.

Über das Schicksal von Isidor Leiser schreibt Heinrich Böll in seinem Essay „Die Juden von Drove“:

„Ein letztes, allerletztes Lebenszeichen eines deportierten Drover Juden brachte Tillmann Hoff – eben jener, der sich als Feuerwehrmann weigerte, zum Synagogenbrandstifter zu werden – im Sommer 1942 mit aus Warschau. Mit einem Lazarettzug fuhr er als Verwundeter in den Warschauer Zentralbahnhof ein, der Zug hatte sechs Stunden Aufenthalt, und Hoff beobachtete, auf einer Wagenrampe sitzend, eine Gruppe älterer Leute, die am Schotter arbeiteten. Er erkennt darunter den Bäcker Leiser, diesen stillen hageren Mann, bei dem man Brot und Brötchen kaufte, der den vorbereiteten Sonntagskuchen der Familien um eine geringe Gebühr in den Ofen schob – er rief Leiser mit seinem Vornamen an: „Isidor!“, wurde vom Posten, der die Kolonne bewachte, vertrieben, sammelte dann von den Kranken und Verwundeten im Lazarettzug, die gerade neu verpflegt wurden, Lebensmittel. Es gelang ihm später, sie Leiser zuzustecken, und ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Er fragte nach Frau und Kindern, über deren Schicksal Isidor Leiser nichts wusste.“

Auch in dem 2001 mit einem Oscar prämierten Dokumentarfilm „Kindertransport in eine fremde Welt“ wurde das Schicksal der Drover Familie Leiser aufgegriffen: Deborah Oppenheimer und Regisseur Mark Jonathan Harris interviewten Hunderte Überlebende – darunter ebenfalls die mittlerweile über 70-jährige Helga Schweitzer, geborene Leiser. Mit 86 Jahren verstarb sie 2011 in den USA.

27.11.2015LebenKreuzau, Drove1 Kommentar bwp

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  • frajobra am 28.11.15 um 14:06 (#43)

    Das Buch habe ich mir gleich am Tag nach der Vorstellung gekauft. Eine hervorragende Fleißarbeit, die ein Schicksal der jüdischen Bewohner aus unserer direkten Umgebung zeigt, und nicht auf Allgemeinplätzen beruht. Die Verbrechen der Nazis geschahen nämlich auch mitten unter uns, von Verbrechern, die aus unseren Orten kamen.

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