Eifel: Die Weihnachtsfeiertage und der Jahreswechsel setzen viele Emotionen frei. Befreundete Gastautoren haben sich mit der Thematik beschäftigt. Aber lesen Sie selbst…
Es war in einer Eifeler Kleinstadt, im Haus einer Durchschnittsfamilie: Vater, Mutter, Oma, zwei Kinder, ein Dackel. Da findet der Vater, ein paar Wochen vor „Chressdaach“, beim Aufräumen in einer verstaubten und dunklen Ecke auf dem Speicher einen Gegenstand, den er selbst nur vom Hörensagen kannte. Es war ein uralter Weihnachtsbaumständer. Und zwar ein ganz besonderer Ständer mit einem Drehmechanismus und einer eingebauten Spielwalze. Wenn man das Ding vorsichtig drehte, erklangen tatsächlich Töne. Mit etwas gutem Willen konnte man die Melodie von „O du fröhliche“ erkennen.
Das musste der Christbaumständer sein, von dem Großmutter immer erzählte, wenn die Weihnachtszeit herankam. Das Ding sah zwar fürchterlich aus, aber dem konnte man ja abhelfen. Vater kam ein wunderbarer Gedanke. Wie würde sich Großmutter freuen, wenn sie am Heiligen Abend vor dem Christbaum säße und dieser sich auf einmal wie in uralter Zeit zu drehen begänne und dazu „O du fröhliche“ zum Besten gäbe? Nicht nur Großmutter, nein, die ganze Familie würde staunen. Ja.
Es gelang dem Vater tatsächlich, mit dem antiken Stück ungesehen vom Dachboden die Treppe hinunter durch den Wohnbereich und hinab in den Keller zu verschwinden, wo sich sein so genannter Hobby- und Bastelraum befand. Da wurde der alte Drehmechanismus ordentlich gereinigt, geölt, eine neue Feder eingebaut. Auch das Äußere des Christbaumständers überholte Vater, hier war der Lack ab, dort gab es eine kleine Delle im Blech auszubeulen. Und alles geschah abends, wenn es dunkel war, unter Ausschluss der Familienöffentlichkeit. Geheimnisvoll zog sich Vater jedes Mal in seinen Hobbyraum zurück, verriegelte die Tür und werkelte. Auf neugierige Fragen antwortete er stets ebenso freundlich wie kurz angebunden mit einem einzigen Wort: „Weihnachtsüberraschung…“
Kurz vor Weihnachten hatte er es geschafft. Wie neu sah der Ständer aus, jetzt müsste er eigentlich wieder funktionieren…
Also zieht Vater los in die Stadt zum Alten Markt, einen prächtigen Christbaum besorgen. Mindestens zwei Meter sollte er messen. Vater suchte und suchte, verwarf die ihm angebotenen Bäume als unwürdig, bis er sich schließlich für ein wirklich schön gewachsenes Exemplar entschieden hatte. Mit ihm verschwand er in seinem Hobbyraum, wo er auch gleich einen Probelauf startete. Tatsächlich: Es funktionierte alles bestens. Was würde Großmutter für Augen machen?!
Endlich war Heiligabend. „Den Baum schmücke ich alleine“, tönte Vater. So aufgeregt hatten die Kinder ihn schon lange nicht mehr erlebt, alles sollte stimmen. Einfach alles: Echte Kerzen hatte er besorgt, jede Menge Lametta, Engelhaar, Kugeln. Es war wunderbar! „Die werden Augen machen“, sagte er bei jedem Naschwerk, bei jeder Wunderkerze, die er im Astwerk des Weihnachtsbaumes befestigte. Vater hatte wirklich an alles gedacht. Der Stern von Bethlehem saß oben auf der Spitze und blinkte – die Feier konnte beginnen.
Vater schleppte für Großmutter den großen Ohrensessel herbei. Feierlich wurde sie aus ihrem Zimmer geholt und zu ihrem Ehrenplatz geleitet. Die Stühle hatte er in einem Halbkreis um den Tannenbaum herum gruppiert. Die Eltern setzten sich rechts und links neben die Großmutter, und wir Kinder nahmen außen Platz.
Jetzt kam Vaters großer Auftritt. Bedächtig zündete er Kerze für Kerze an, dann noch die Wunderkerzen. „Und jetzt kommt die große Überraschung“, verkündete er, löste die Sperre am Ständer und nahm ganz schnell seinen Platz wieder ein.
Langsam begann sich der Weihnachtsbaum zu drehen, hell spielte die Musikwalze „O du fröhliche“. War das eine Freude?? Die Kinder klatschten vergnügt in die Hände. Oma hatte Tränen der Rührung in den Augen. Immer wieder sagte sie: „Wenn Großvater das noch erleben könnte, dass ich das noch erleben darf.“ Auch Mutter war stumm vor Staunen.
Eine ganze Weile schaute die Familie beglückt und stumm auf den sich im Festgewand drehenden Weihnachtsbaum, als ein schnarrendes Geräusch sie plötzlich und jäh aus ihrer Versunkenheit riss. Ein Zittern durchlief den Baum, die bunten Kugeln klirrten wie Glöckchen. Der Baum fing an, sich wie verrückt zu drehen. Die Musikwalze hämmerte los. Es hörte sich an, als wollte „O du fröhliche“ sich selbst überholen. Mutter rief mit überschnappender Stimme: „So tu doch etwas! Mensch, so tu doch was!“ Aber Vater saß da wie versteinert, was den Baum nicht davon abhielt, seine Geschwindigkeit noch weiter zu steigern. Er drehte sich schnell und immer schneller – und schließlich so rasend, dass die Flammenzungen wie Fahnen hinter ihren Kerzen herwehten. Großmutter bekreuzigte sich und betete. Dann murmelte sie: „Wenn das Großvater noch erlebt hätte.“
Als Erstes löste sich der Stern von Bethlehem. Er sauste wie ein Komet durch das Zimmer, klatschte gegen den Türrahmen und fiel dann auf Felix, den Dackel, der dort ein Nickerchen machte. Der arme Hund flitzte wie von der Tarantel gestochen aus dem Zimmer und ab in die Küche, wo man von ihm nur noch die Nase und ein Auge um die Ecke schielen sah.
Lametta und Engelhaar hatten sich inzwischen aus der Erdanziehung befreit und sich von der Fliehkraft packen und in die Lüfte erheben lassen, wo sie jetzt wie ein Kettenkarussell um den Weihnachtsbaum kreisten. Wie lange mochte das gut gehen? Der Baum legte weiter Zahn um Zahn zu.
Mit einem Mal gab Vater das Kommando: „Alles in Deckung!“ Ein Rauschgoldengel trudelte losgelöst durchs Zimmer, nicht wissend, was er mit seiner plötzlichen Freiheit anfangen sollte. Weihnachtskugeln, gefüllter Schokoladenschmuck und andere Anhängsel sausten wie Geschosse durch das Zimmer und platzten beim Aufschlagen auseinander.
Die Kinder hatten inzwischen hinter Großmutters Sessel Schutz gefunden. Vater und Mutter lagen flach auf dem Bauch, den Kopf mit den Armen hinter dem Nacken schützend. Mutter jammerte in den Teppich hinein: „Alles umsonst, die viele Arbeit, alles umsonst!“
Vater war das alles sehr peinlich. Oma saß immer noch auf ihrem Logenplatz, wie erstarrt, von oben bis unten mit Engelhaar und Lametta behängt. Ihr kam Großvater in den Sinn, als dieser im Weltkrieg 1914/18 in den Ardennen in feindlichem Artilleriefeuer gelegen hatte. Genau so musste es gewesen sein. Genau so!
Als gefüllter Schokoladenbaumschmuck an ihrem Kopf explodierte, registrierte sie trocken „Kirschwasser“ und murmelte: „Wenn Großvater das noch erlebt hätte!“ Zu allem jaulte die Musikwalze im Schlupfakkord „O du fröhliche“, bis mit einem ächzenden Ton der Ständer seinen Geist aufgab. Und stehen blieb! Mit einem Schlag!
Durch den plötzlichen Stopp neigte sich der Christbaum in Zeitlupe, fiel aufs kalte Buffet, die letzten Nadeln von sich gebend. Totenstille! Großmutter, geschmückt wie nach einer New Yorker Konfettiparade, erhob sich schweigend. Kopfschüttelnd begab sie sich, eine Lamettagirlande wie eine Schleppe tragend, auf ihr Zimmer. In der Tür stehend drehte sie sich noch einmal zu uns um und sagte vorwurfsvoll: „Wie gut, dass Großvater das nicht mehr erlebt hat!“
Mutter, völlig aufgelöst zu Vater: „Wenn ich mir diese Bescherung ansehe, dann ist Dir Deine große Überraschung wirklich gelungen. Einfach wunderbar!“ Andreas aber meinte: „Du, Papi, das war echt stark! Machen wir das jetzt Weihnachten immer so?“
Aus Manfred Lang (Hg.) „Eifel-Winter, Herrliche Geschichten für lange Abende vor und nach Weihnachten“, mit Zeichnungen von Ralf Kramp, KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim, 368 Seiten, Hardcover, 14,90 €, ISBN 978-3-940077-99-8
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