Bad Münstereifel: Es war eine Kopfsache. Ein halbes Jahr hatte Volker Nietmann aus Iversheim für diesen Aufstieg am 28. Juli 2018 intensiv trainiert, in den Jahren zuvor die Gipfel von Watzmann, Großglockner und Breithorn erklommen. Jetzt morgens um 4 Uhr nach der Blutmondnacht am Fuß des Matterhorns fand er nicht in seinen Kletterrhythmus. Er, der Unsportliche, bis zu seinem Herzinfarkt mit 37.
Der kündigte sich am Morgen des 14. April 2007 unspezifisch an. Nietmann wachte mit Schmerzen im oberen Rücken auf. Beide Arme fühlten sich an wie Blei. Trotzdem half der Arbeitstherapeut für psychisch Kranke einem Freund bei Dacharbeiten. Mittags fühlte er sich zunehmend schlechter und suchte seine befreundete Hausärztin auf. Sie bescheinigte ihm einen normalen Blutdruck. Nietmann solle sich sicherheitshalber ein EKG beim Sitzdienst im Euskirchener Krankenhaus schreiben lassen. „Sie haben ein Herz wie ein Sportler. Damit werden sie hundert Jahre alt“, sagte die dortige Ärztin nach der Untersuchung. Blut abzunehmen, um nach einem erhöhtem Herzenzymwert als Indikator für einen Herzinfarkt zu schauen, versäumte sie.
Zehn Minuten später wurde Nietmann von einem Notarzt hinter dem Steuer seines Autos reanimiert. Seine damalige Frau saß neben ihm, als er nach der Ausfahrt aus dem Krankenhausparkhaus plötzlich den Kopf in die Nackenstütze warf, zitterte und das Bewusstsein verlor. Sie sprang aus dem Auto und stoppte einen Rettungswagen, der gerade zu einem Notfall ausrücken wollte.
„Ich habe kein helles Licht gesehen. Vom Gefühl her war ich aber nicht allein. Es fühlte sich auch nicht schlimm an“, beschreibt er sein Wegtreten nach dem Infarkt. Drei Tage lag er im künstlichen Koma. Danach ging er zur Rehabilitation nach Marmagen und fiel in ein psychisches Loch.
„Mit 37 denkt man, dass man unverwundbar ist“, sagt der heute 49-jährige Nietmann. Im Euskirchener Krankenhaus war er zugepumpt mit Medikamenten. Jetzt aber im Wald der Reha-Klinik wurde ihm bewusst, dass der Infarkt ihm das Unbeschwerte genommen hatte. Von hundert Menschen, die nach einem Infarkt reanimiert werden, kommen zehn zurück, sagten ihm die Ärzte. Nietmann gehörte dazu. Trotzdem fühlte er ständig Angst, ihn könne wieder ein Herzinfarkt treffen. Nietmann weinte. Dann beschloss er zu lernen, mit der Angst besser umzugehen. Er riss sich zusammen.
Das tut er auch am Morgen des Aufstiegs am Matterhorn. „Konzentriere dich auf deinen Kletterrhythmus“, sagt ihm sein deutscher Bergführer Marcel Roßbach. Nietmann schafft es, die anderen Kletterer des Trupps, die ihn überholt haben, wieder einzuholen. Die Sonne geht auf. Achtsam setzt Nietmann seine Griffe. Jeder Fehler kann tödlich enden. Seit der Erstbesteigung des Matterhorns am 14. Juli 1865 sind fünfhundert Menschen abgestürzt. Mit jedem zurückgelegten Höhenmeter wird die Luft dünner. Bei 4.200 Höhenmetern zieht Nietmann eine Jacke über sein Funktionsshirt, die Minusgrenze ist erreicht. Für Nietmann scheint ein Jugendtraum wahr zu werden. Nur noch fünfzig Meter trennen ihn von der Spitze des für ihn schönsten Berges der Alpen, ein Solist mit markanter Form. Nietmann ist mit seinen Kräften am Ende.Bergführer Roßbach ist an seiner Seite. Bei ihm belegte der kletterunerfahrene Nietmann 2012 einen Kletterkurs mit einem Freund. 2013 folgte im Pitztal ein Kurs über Eisklettern und Spaltenrettung. Roßmann begleitete Nietmann auch bei der Erklimmung von Watzmann und dem 4.167 Meter hohen Breithorn, sein „warm-up“ für das 4.478 Meter hohe Matterhorn, Wahrzeichen der Schweiz. Daheim in der Eifel trainierte Nietmann sechs Monate jeden Tag für dieses Ereignis. Abwechselnd ging er zum Muskelaufbau für Arme und Beine ins Fitnessstudio. Kondition gewann er mit elf Kilometer langem Jogging. Er nutzte das Hochwasserrückhaltebecken der Erft bei Eicherscheid, lief die Stufen hoch und runter, 25-mal mit, 25-mal ohne Steigeisen. Allein in der Natur unterwegs zu sein, war für Nietmann seit dem Infarkt nicht mehr selbstverständlich.
Es hat seine Zeit gebraucht, bis sich Nietmann das nach dem Herzinfarkt traute. In der Reha hatten die Therapeuten ihn zum Walken bewegt und stets begleitet. Aus der Reha entlassen, mussten nun sein Bruder oder ein Freund dabei sein. Einmal konnte keiner mitkommen. Wenn du jetzt nicht alleine gehst, dann wird dich die Angst immer lenken, machte sich Nietmann bewusst. Von da an trainierte er immer häufiger allein. Vor dem Infarkt hatte sich Nietmann nicht groß etwas aus Sport gemacht. Eigentlich habe er so alles mitgebracht, was es für einen Herzinfarkt braucht: Nietmann war Raucher, sein Cholesterin war erhöht, was er damals noch belächelte. Ernährung war nicht unbedingt sein Thema. Nietmann wog vier Kilo zu viel und hatte gerade eine stressige Zeit mit dem Umbau eines Fachwerkhauses hinter sich. Hinzu kam die erbliche Komponente. Seine Mutter war mit 63 nach einem Herzinfarkt gestorben.
Jetzt nach dem eigenen Infarkt brauchte der neue Nichtraucher Nietmann („Als ich aus dem Koma aufwachte, hatte ich nie mehr das Verlangen nach einer Zigarette“) den Sport, um das Risiko kleinzuhalten, dass es nochmal passiert. Damit beruhigt er auch seine Psyche. „Die Angst ist allgegenwärtig, aber ich habe gelernt, mit ihr umzugehen“, sagt er. Zweimal nach der Reha ließ er sich ins Krankenhaus einliefern, weil er befürchtete, wieder einen Infarkt zu erleiden. Heute noch beobachtet er seinen Körper genau, wo es in und an ihm zwickt. Alle drei Monate lässt er sich von seiner Hausärztin und einmal im Jahr von einem Spezialisten in Bonn durchchecken. Ein weiterer positiver Effekt durch den Sport: Musste Nietmann in der Reha täglich noch zwölf Tabletten schlucken, konnte er sie durch die Bewegung auf zweieinhalb reduzieren. Anfangs genügte Nietmann das Auto nach einem Waldlauf als Ziel. Irgendwann wollte er sich beweisen, dass er trotz Handicap auch höhere Ziele erreichen kann.
Zentimeter für Zentimeter muss er sich die letzten 50 Meter bis zum Gipfel an einem Tau hochziehen. Nietmann ist erschöpft. Seine verstorbene Schwägerin hat trotz langjähriger Krankheit nie gejammert. Die Erinnerung an ihr positives Erscheinen und seine eigene Willenskraft wirken. Nach vierstündigem Aufstieg steht Nietmann um 8 Uhr auf den Gipfelsteinen des Matterhorns. Stolz steigt in ihm auf. Lange Zeit zum Verweilen bleibt nicht. Eine Schlechtwetterfront kündigt sich an. Der Bergführer mahnt zum Abstieg.Mit jedem Meter, den Nietmann absteigt, wird er stolzer. Dennoch bremst er seine Euphorie. „Einen Gipfel hast du erst bestiegen, wenn du auch sicher wieder unten angekommen bist“, sagt er.
Nach vier Stunden um 12 Uhr nimmt ihn sein Jugendfreund Volker Pick an der Hütte sicher vor dem einsetzenden Gewitter und Regen in Empfang. Nietmann hat Funkkontakt. Nietmanns Tochter ist heilfroh, die Stimme ihres Vater zu hören.
Das Matterhornprojekt hat Nietmann über die Jahre mit Foto- und Videokamera festgehalten und daraus einen Film „Von der Nulllinie auf 4.478 Meter“ gebastelt. Premiere ist am 10. Mai im Iversheimer Dorfsaal. Einlass der zweistündigen Veranstaltung ist um 18.30 Uhr, Filmstart um 19.00 Uhr. Danach wird er Rehakliniken besuchen und Menschen mit ähnlichem Schicksalsschlag Mut machen. „Das Leben ist nicht vorbei. Es geht weiter. Setzt euch Ziele“,sagt Nietmann. Gern nimmt er Geldspenden an zugunsten von „kinderherzen – Fördergemeinschaft Deutsche Kinderherzzentren“ der Bonner Kinderklinik Sankt Augustin (www.kinderherzen.de). Der spendenfinanzierter Verein setzt sich seit 1989 für verbesserte Behandlungsmöglichkeiten von herzkranken Kindern weltweit ein.
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