Eifel: Die Aachener Architektin Astrid Urgatz stellte unserer EIFELON-Redaktion Lebenserinnerungen ihres Urgroßvaters, der 1891 eine Gärtnerei in Herzogenrath gründete, zur Verfügung: 1870 zupfte der kleine Jacob Wilhelm Hellbach Verbandsmaterial für die Kriegsversehrten des Deutsch-Französischen Krieges. Heute näht seine Urenkelin Astrid – mittlerweile selber Großmutter – Mundschutzmasken gegen Corona-Infektionen.
In seinen Erinnerungen hielt Hellbach die Erlebnisse vor 150 Jahren fest:
„Im Juli 1870 änderte sich plötzlich das ruhige Bild unseres kleinen Dörfchens. Am 13. Juli Kriegserklärung! Ganz in der Nähe, in Bad Ems, die dramatische Szene des Zusammenstoß‘ der französischen Gesandten mit dem alten König Wilhelm, späterem Kaiser Wilhelm dem Ersten. Mitten durch das ruhige Dörfchen rollte von da an Zug auf Zug. Soldaten, Pferde, Kanonen fuhren Tag und Nacht vorüber. Ich sehe sie noch heute in den offenen Türen der Güterwagen, die Beine heraushängend zwischen den Pferden sitzen, die Husaren, Ulanen, Artilleristen. Alle waren lustig Lieder singend, siegesbewusst. Das Alles machte auf uns Buben einen tiefen Eindruck!Einige Wochen später kamen schon täglich Kriegstelegramme, die vom Bürgermeister am Gemeindebackhaus angeschlagen wurden. Ich hatte schon so viel Lesen gelernt, daß ich alles gut verstand.
Zuhause fing eine neue Tagesordnung an. Bis spät abends durfte ich aufbleiben und helfen „Scharzie“ [Verbandsmaterial] zupfen. Alle alten ausgewaschenen Betttücher und Leinensachen wurden in Streifen geschnitten und ausgerupft. In Paketen verpackt wurde das Rupssel zum Amt gebracht. Eine antiseptische Wundbehandlung kannte man damals noch nicht, deshalb sind auch so viele Verwundete gestorben. Auch die damaligen Gewehrkugeln mit ihrem Bleimantel, der auf den Knochen auseinanderplatzte, verursachte schreckliche Wunden.
Anfang August kamen schon die ersten gefangenen Franzosen. Dieselben wurden bei den Bürgern einquartiert. Die Offiziere kamen von Boppard herüber fischen. Wir Buben besorgten für einige Centime vom Bäcker Mehlwürmer. Auf unsere Zurufe erwiderten sie oft „Bessez … – Wir Buben verstanden anfangs nicht, später antworteten wir „Lesse minut’e“ das war unser Französisch! Es kamen immer mehr Gefangene.
Es trat auch eine Teuerung der Lebensmittel ein. Ein Pfund Butter, das vor dem Kriege 8 Groschen kostete, stieg auf das Doppelte. Es bestand damals noch die Talerwährung.
Einen schrecklichen Gast brachten die Franzosen mit: „Die schwarzen Pocken“. In Boppard starben viele Leute daran. Ein Vetter mütterlicherseits wurde schwer verwundet gemeldet und starb bei Weissenburg.
„Das sind Ausschnitte aus den Lebenserinnerungen meines Urgoßvaters“, erläutert Astrid Urgatz und schildert – 150 Jahre später – ihre Erfahrungen mit der Corona-Krise:
„Bei uns änderte sich das tägliche Leben nach Karneval 2020. Am 15. Februar verbreitet sich in Gangelt – Langbroich das hochansteckende Corona-Virus (Sars-CoV-2). Zuvor hatte im Januar eine chinesische Mitarbeiterin aus Wuhan das Virus im bayrischen Mutterhaus an Kollegen weitergegeben.
Wenige Kilometer nördlich meiner Heimatstadt hatte sich das Virus auf einer dörflichen Karnevalsveranstaltung massenhaft ausbreiten können. Keiner ahnte etwas, zwischen Alaaf und Schunkeln hat es uns ganz mächtig die ausgelassene Fröhlichkeit ausgetrieben. Wir haben das Virus, das zunächst in China – weit weg von uns – grassierte, unterschätzt. Wir wähnten uns sicher. Doch täglich hören und sehen wir in den Nachrichten beängstigende Szenen. In Norditalien sterben die Menschen, besonders die Alten, wie die Fliegen. Bestatter kommen nicht mehr nach, um einen einigermaßen würdevollen Abschied für die Angehörigen zu bereiten.
Ausgangssperren, Geschäfte werden geschlossen, alle Veranstaltungen sind abgesagt. Die Krankenhäuser kommen an ihre Grenzen. Schutzmasken & -kleidung für das medizinische und pflegende Personal wird knapp. Es gibt nicht genug Beatmungsgeräte. Die Horrornachrichten breiten sich über Spanien und Frankreich weiter aus. Auch das britische Gesundheitssystem scheint bald zu kollabieren. Ende Januar erst sind die Briten aus der EU ausgetreten, jetzt stehen sie alleine da. Die Bedrohung rückt immer näher, scheint uns geradezu einzukreisen.
Unser Alltag änderte sich abrupt. Mein Mann sollte ins Home-Office. Das bedeutet für uns, dass er nicht zu seinem Zweitwohnsitz ins Ostwestfälische zurückfuhr, sondern dass wir beide nun täglich aufeinander hocken, wo wir doch seit Jahren an eine Wochenendbeziehung gewöhnt sind. Es läuft erstaunlich gut, muss ich feststellen. Doch ein Reibungspunkt ist unser unterschiedlicher Biorhythmus. Ich schaffe es einfach nicht um 22.00 Uhr ins Bett zu gehen und um 7.00 Uhr aufzustehen. Ich bin halt eine Nachteule.
Schulen, Kindergärten und Spielplätze wurden geschlossen, Großeltern sollen nicht auf ihre Enkel aufpassen, da die Gefahr der Ansteckung zu groß ist.
Ich gehöre aber mit meinen 58 Jahren noch nicht zur Risikogruppe. Also betrachte ich unsere Enkelin als zur Kernfamilie gehörend. Doch als ich wieder einmal Husten bekomme, werde ich unsicher. Ich habe kein Fieber – was bei mir aber nicht ungewöhnlich ist. Doch kann ich trotzdem Corona haben? Getestet werde ich nicht. Die Kapazitäten für einen Test sind ausgereizt. Wir gehen möglichst in Quarantäne, um Zeit zu gewinnen, bis die Forschung mehr Testmöglichkeiten entwickelt hat, oder am besten einen Impfstoff.
Kontaktverbot, mehr als zwei Personen dürfen nicht zusammen raus, es sei denn, es ist die Kernfamilie. Ich überlege praktische Rituale, um mögliche Ansteckungssituationen im Alltag, beim Einkauf zu vermeiden. Und dann kommt immer mehr der Mundschutz in die Diskussion. Professionelle, wirkungsvolle Masken gibt es nicht zu kaufen. Die Wissenschaft streitet, ob improvisierte Mund-Nasenschutzmasken aus Baumwolle sinnvoll sind.
Egal, ich nähe Mund-Nasenschutz-Masken. Muss meine Nähmaschine noch einmal einstellen lassen, was in diesen Zeiten auch nicht so einfach geht. Aber ich habe Glück und es ist tatsächlich nicht wirklich etwas kaputt. Beim Nähen der Masken, für die ich in mein „Stofflager“ hinuntergestiegen bin, und dem Zerreißen eines alten Bettlakens, um die Bänder herzustellen, musste ich an den Ausschnitt der Lebenserinnerungen meines Urgroßvaters denken.
150 Jahre liegen zwischen diesen Ereignissen und doch treibt ein plötzlicher Mangel, der in dieser Katastrophe zu Tage tritt, mich dazu, genau so zu handeln, wie meine Ahnen.
Mein Baumwoll-Stofflager beinhaltet uralte Bettwäsche, teilweise im poppigen 1970er-Jahre-Design, Tischdecken, Schlafanzüge, Herrenhemden und Stofftaschentücher. Letztere stammen teilweise auch noch von meiner Oma oder Mutter.
Es ist ein geradezu sinnliches Erlebnis, ein altes Bettlaken in Streifen zu reißen: An den Rändern, dort wo der Stoff noch kräftig ist, klingt er laut und hart. Zur Mitte hin wird das Reißen von einem Decrescendo begleitet, die Melodie wird so weich wie der alte Stoff, um dann zum unteren Ende hin wieder anzuschwellen und mit einem finalen „Ratsch“ die kleine Symphonie zu beenden. Die Taschentücher haben Jahrzehnte ungenutzt in einer Schublade geschlummert. Doch konnte ich mich nie davon trennen. Jetzt habe ich sie dieser sinnvollen Umnutzung zugeführt und sie erweisen sich als die komfortabelste Stoffauswahl. Ein wenig wehmütig wird mir dann zumute, wenn ich ein Taschentuch trage, mit dem sich meine Mutter schon so manche Träne weggewischt hatte.
Oder ich muss an einen Ausspruch meiner Oma denken, die einmal beim Anblick eines neuen Kleidungsstücks, welches ich für meinen kleinen Sohn genäht hatte, sagte: „Kindchen, du wirst nie Not leiden. Wenn du als Architektin keine Arbeit mehr hast, dann nähst du halt.“ Meine Oma verband ganz selbstverständlich die Fertigkeit, Nähen zu können, mit der Überwindung von Not. In diesem Geiste stellt für mich das Nähen der Schutzmasken zumindest eine Bewältigung meiner eigenen Verunsicherung und Angst im Umgang mit dem Virus dar. Ich produziere etwas Sinnvolles, über dass sich die Beschenkten freuen.
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