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Am Ende des Zweiten Weltkriegs bedeutete "Heimaturlaub" manchmal: Von der Front an die Front. [Foto: eifelon]

Andreas Züll: Der verlorene Sohn

Eifel: Die Weihnachtsfeiertage und der Jahreswechsel setzen viele Emotionen frei. Befreundete Gastautoren haben sich mit der Thematik beschäftigt. Aber lesen Sie selbst…


Hast du nicht meinen Knecht Hiob gesehen?
Es gibt ja seinesgleichen nicht auf Erden,
fromm und recht, gottesfürchtig und dem Bösen fern!
Hiob 8

Er. Was heißt das noch? Sein Name. Wie hat er gelautet, da unten auf Erden? Ist das noch der Name eines Menschen? Schmeckt, riecht, fühlt er noch? Rückzug, immerzu Rückzug. Seitdem er an der Front ist, hat er nichts anderes kennen gelernt. Brücken sichern, Brücken sprengen, Gräben ausheben, Minen räumen. Und Rückzug. Und die Artillerie des Feindes.

Dann der Einschlag neben ihm. Bei Gatschina, bei Livland, wo auch immer, was macht das noch für einen Unterschied. Bei irgendeinem gottverlassenen Kaff in Russland, im Baltikum, irgendwo, wo er nichts verloren, nichts zu suchen hat, findet er den Tod. Einfach so.
Das Brennen in den Augen. Das Feuer auf der Haut, das Zusammenbeißen, das Knirschen von Zähnen, das Hervorschießen von Blut, das krachende Ausbrechen der eigenen Knochen, die zerfetzte Uniform in den Wunden. Der Schrei in der Kehle, den keiner hört, auf den niemand antwortet, der keine Antwort erwartet, sinnlos ist, nur geschrien wird, weil der Verstand sich nicht mehr anders zu helfen weiß. Und der Schmerz in den Gliedern, der endgültig ist, alles um einen herum ausblendet, das Knattern von Maschinengewehren, das Ballern der Artillerie, das Knallen und Donnern der Feinde, das Sterben der Kameraden. Er kennt ihn schon, diesen Schmerz, wie ein unerwünschter, aber bekannter Besucher strömt er auf ihn ein, will ihn ganz für sich haben, zehrt Mitleid und Liebe auf. Und Kameradschaft. Hohle Worte, leere Hülsen, ausgespuckte Zähne im Dreck. Verrecken soll der Landser bitteschön allein, das ist seine Sache. Privat.

Er krallt seine Finger in den Boden, windet sich, zerrt seine zerschundenen Beine hinter sich her. Er weiß, dass es nicht aufhören wird, dass Gott ihn hier krepieren lässt, wenn er sich nicht zusammenreißt, wenn er sich nicht weiter schleppt, durch das Feuer, durch die Granaten, den umher wirbelnden Staub, die Splitter, die Knochen, die Toten. Aber er kann nicht. Er stirbt, wird selbst zum Toten, wird selbst umhergewirbelt.

Leningrad und die Hölle. Auf dem Ladogasee hat es ihn schon einmal erwischt, beinahe wäre er da schon drauf gegangen. Verdammte Offiziere! Zum Henker, zum Iwan mit ihnen! Aber er lebt noch. Er schmeckt nicht mehr, riecht nicht mehr, fühlt nicht mehr, aber er lebt noch. Aus dem Dunkel der Albträume dringt das Licht, das Licht eines schneeweißen Bettbezuges, dringt das Gemurmel auf dem Flur des Lazarettes. Dringen Frauenstimmen und Vogelgezwitscher.
„Josef!“

Er spürt, dass jemand an ihm rüttelt, sieht sich von oben, sieht zerlumpte Kameraden ihn auf eine Trage heben. „Josef, halt durch, wir bringen dich weg“, sagt einer zuversichtlich. „Der verreckt uns hier … und wir gleich mit … Sani! Sani! Verdammt nochmal!“ schreit ein anderer. Die Stimmen sind so fern, so nah, so fern.
„Josef? Josef! Wach auf. Du hast Post.“

Wieder ein Rütteln. Dieser Schmerz. Wo ist er? Josef schlägt die Augen auf. Er schmeckt, riecht, fühlt. Desinfiziermittel. Albträume. Er lebt Albträume.

„Hier, ist gerade gekommen.“ Der Kamerad neben ihm hält mit der freien Hand einen Umschlag hoch, abgestempelt von der Feldpost der Wehrmacht, der andere Arm hängt in einer Schlinge. Diese Hand fehlt, er hat Josef den Stumpf gezeigt. Flaksplitter. Verdammtes Glück will er gehabt haben, der Einhändige, den man aus der verlausten, ehemals grauen Uniform in einen sauberen, blau-weiß gestreiften Bademantel gesteckt hat. Sie wollen alle verdammtes Glück gehabt haben, hier in den schneeweißen Betten des Lazaretts.

Aber eine andere Hand hat auf den Brief schreiben können, eine Hand, die lebt und noch zu einem atmenden Menschen gehört. Die Handschrift seiner Frau.

„Der Arzt war eben hier. Du bist entlassen. Hast Urlaub bekommen.“
Er sagt nichts, er nickt nur und nimmt den Brief. Urlaub? Was ist das? Wohin? Vergangene Woche standen die Amerikaner kaum zehn Kilometer von seinem Dorf entfernt, im Hürtgenwald, eine schöne Gegend. Wie weit sind sie nun?

Benommen richtet er sich auf, nimmt den Brief, öffnet ihn, liest.

Liest vom Tod seiner Schwester, liest vom Tod der Kinder, liest vom Tod der Freunde, liest von den Bomben, den zerstörten Häusern, von Flucht und Hunger, liest Worte, geschrieben von Überlebenden, von seiner Frau, von seiner kleinen Tochter. Papa, du fehlst uns. Sie leben. Gott sei dank, sie leben. Aber all die anderen sind tot. Die Namen und Buchstaben tanzen auf dem Papier. Gesichter tauchen auf. Josef kann sich nicht freuen, Josef kann nicht trauern.
Er darf nachhause. Ein Zuhause, dass es nicht mehr gibt.

Der Einhändige legt ihm die heile Hand auf die Schulter und lächelt. Ein lächelnder einhändiger Kriegsheld in einem grotesken Bademantel, und die dessen Hand auf seiner Schulter.
„Freu dich doch“, sagt die Erscheinung, „es geht heimwärts. Raus aus dem Schlamassel“
Da schlägt er die Hände vors Gesicht und weint. Und schmeckt und riecht und fühlt und lebt, als sei nichts Leichteres auf der Welt.

„Heimwärts“, heult er, schluchzt er, einen Schrei, den alle Welt hören soll, die Führer, die Offiziere, die Lebenden, die Toten, „heimwärts, heimwärts.“ Und weiß kein anderes Wort zu sagen, als dieses eine. Endlich, endlich nachhause. Heim. Auf seinen Hof, zu Frau und Kind.
Heim.

An die Front.

Andreas Züll (*1984 in Schleiden/Nordeifel) ist seit 2001 überwiegend als Lyriker schriftstellerisch tätig gewesen. Zuletzt erschienen ist 2012 sein Drama „Judenkind“, Uraufführung 2014 am Geschwister-Scholl-Gymnasium in Daun. Im bürgerlichen Leben Studium der Geschichtswissenschaft und Germanistik an der Universität Trier, abgeschlossen 2015 mit dem Master of Education und dem Master of Arts. Züll ist u.a. Mitglied des Freien Deutschen Autorenverbandes (FDA).
22.12.2015LebenEifel0 Kommentare Gast Autor

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