Umland, Belgien: Meine erste Begegnung mit dem Herver Käse kam eher unerwartet zustande. Ich war in der Gegend bei einem Krämer eingekehrt, auf der Suche nach einer anderen Spezialität der Region, dem Sirup de Liège, eine Leckerei aus Apfel- und Birnenkraut sowie Datteln. Dieser Krämer hatte auf seiner Theke eine kleine Käseglocke stehen, unter der sich eine weitere, kleinere Käseglocke befand, und unter dieser lagen drei oder vier in schlichtes Papier eingepackte, würfelförmige Käse. Der merkwürdige Aufbau von Käseglocke unter Käseglocke erweckte mein Interesse, und daher wollte ich einen der kleinen Klötze mitnehmen. Der sich beim Lüften der Glasdeckel entfaltende Duft ließ mich den Kauf schlagartig noch einmal überdenken. Nun war klar, warum gleich zwei Käseglocken die Außenwelt vor dem Käse schützten.
Mir fällt beim besten Willen keine Metapher ein, mit der ich diesen Hautgout beschreiben könnte, ohne empfindsame Leser zu verstören. Falls Sie Herver Käse kennen, wissen Sie, wovon ich spreche, ansonsten lassen Sie einfach Ihrer Fantasie freien Lauf. Die Verkäuferin sah mir an, dass mein Kaufwunsch auf der Kippe stand und war klug genug, mir keinerlei Bedenkzeit zu gewähren; sie griff stattdessen zu einem blaugrünen Topf und stellte ihn mit den Worten: „Das müssen Sie dazu essen!“ zum Käse. Nach Atem ringend hatte ich gar keine Luft, um noch zu widersprechen, und ja! Da war es ja, das köstliche Kraut, das ich gesucht hatte, und also brachte ich einen Herver Käse der Kategorie piquant extra samt einem Pott Sirup heim.
Man mag es nicht glauben – beides zusammen auf einer Scheibe Brot ist eine Delikatesse, derer es nicht viele gibt. Zum einen schmeckt selbst ein extrem reifer Herve lange nicht so intensiv, wie er riecht, und das süße Kraut, großzügig darauf verstrichen, setzt genau den Akzent, durch welchen ein schlichtes Käsebrot zu einem von Bescheidenheit bei den Zutaten – nur Brot, Käse und Kraut – geprägten, kulinarischen Hochgenuss macht. Deshalb findet man in vielen Geschäften der Region oft beides schon zusammen verpackt im Angebot. Man muss nicht gleich mit der höchsten Kategorie anfangen, man bestellt ja auch nicht beim Thailänder direkt die Schärfestufe 10. Auch milder Herve hat schon seine Qualitäten und gibt einen guten Eindruck davon wieder, was einen bei älteren Exemplaren erwarten kann. Rasch wird der abenteuerlustige Genießer, so er denn offenen Herzens und Magens ist, sich anspruchsvolleren Herausforderungen stellen. Die höchsten Weihen erlangt man schließlich, wenn man sich dem Herver Käse echt-bäuerlicher Herkunft widmet, insbesondere die Produkte einer Käserei, die noch mit Rohmilch arbeitet. Was eine echte Herausforderung ist, angesichts der immer maßloseren Vorschriften seitens der EU Lebensmittelkontrollbehörden. Deren Regularien wurden eigentlich für Großbetriebe der Lebensmittelbranche gestrickt, werden jedoch auch auf kleine und kleinste Hersteller angewendet. Die daraus resultierenden Vorschriften können von Kleinbetrieben aus finanziellen und räumlichen Gründen zu oft nicht erfüllt werden, so dass immer mehr Produzenten ihre Tätigkeit einstellen mussten. Ein generelles Problem, das in der Brüsseler Bürokratie begründet liegt und sich nicht auf die Käsereien in Limbourg beschränkt, sondern überall vorhanden ist, wo im bescheidenen Rahmen regionale Leckereien hergestellt werden.
Dass der Limbourger aus Herve so schmeckt, wie er schmeckt, verdankt er einem Rotschmierebakterium, das zur Reifung auf den Käse gestrichen wird und nur im Herver Land vorkommt. Je länger dieser kleine Helfer arbeiten kann, um so intensiver machen sich die Verdauungsprodukte von bacterium linens auf und im Käse breit. Ein Vorgang, der gar nicht sehr verschieden ist von ähnlichen chemischen Prozessen, die wir weitaus weniger angenehm empfinden; dies sei hier zwar nur als Fußnote angemerkt; doch muss erwähnt werden, dass die Stoffwechselprodukte von Bacterium linens ganz ähnlich denen sind, die von Bakterien der Art Brevibacterium epidermis erzeugt werden, und die sind bevorzugt im Bereich menschlicher Füße aktiv. Dabei entsteht ein Duft, der magisch die Malariamücke Anopheles gambiae anzieht, die dann ihren Opfern nur zu gerne in die Füße sticht. Wer auch immer den genialen Einfall hatte – jemand kam auf die Idee, Mückenfallen mit dem Duft von Herver Käse zu präparieren, und siehe da, die Zahl der Stiche in gefährdeten Regionen nahm deutlich ab.
Eng verwandt mit dem „echten“ Limbourger aus der Region um Herve ist der Romadur, ein Käse, der auch in Deutschland produziert wird, zum Beispiel im Allgäu. Auch der Romadur wird mit einem Bakterium geimpft, das für eine ähnliche rote Außenschicht wie die des Herve sorgt. Als die Spanier im heutigen Flandern herrschten, gaben sie dem dort hergestellten Herve den Namen eines ihnen aus Spanien bekannten Käses, Ramdom, woraus Romadur entstand. Es kann aber auch anders gewesen sein, unstrittig ist jedenfalls, dass der Begriff Romadour – oder Remoudou – anfangs nur eine weitere regionale Bezeichnung für den Limbourger aus Herve war. Dass es heute auch Limburger und Romadur gibt, der nicht im Belgien produziert werden, hat einen Grund, der fast 200 Jahre zurück liegt: 1830 brachte Carl Hirnbein, ein Großbauer und Agrareformer aus dem Allgäu, das Rezept für den Limbourger aus Belgien mit zurück in seine Allgäuer Heimat. Zusammen mit zwei echten Limbourgern, den Brüdern Grosjean, startete Hirnbein die erste Produktion von Limburger Käse in Bayern. Der bald einsetzende Erfolg führte dazu, dass das Allgäu sich von einer überwiegend flachs-anbauenden zu einer viehwirtschaftlichen Region wandelte, denn die Nachfrage für Milch stieg durch die Käseproduktion natürlich enorm an.
Noch einmal zurück zu Mark Twain, von dem im ersten Teil die Rede war. Der reiste zwar lange und weit durch Europa und natürlich auch Deutschland, die Geschichte mit dem Käse im Zug spielt allerdings in den USA. Was macht nun dort ein Limburger Käse in einem Zug? Die Antwort ist diese: In den USA wurde seit dem 19. Jahrhundert in Regionen mit Nachkommen deutscher Einwanderer, so zum Beispiel in Wisconsin, ebenfalls voller Empathie Limburger Käse nach der Anleitung Hirnbeins hergestellt, und dieses Milchprodukt erfreut sich bis heute als Bestandteil des „Limburger Sandwich“, bestehend aus Roggenbrot, Käse und roten Zwiebelringen, großer Beliebtheit. Es ist somit zu vermuten, dass es sich um den von Mark Twain beschriebenen Reisenden um einen deutschen Einwanderer oder eines Nachkommen gehandelt hat.
Sind Sie dem Herve – übrigens der einzige belgische Käse mit einer Appelation d’Origine Contrôlée (AOC) – einmal verfallen, dann essen Sie ihn oft und reichlich, ob mit oder ohne Sirup, ob mild oder höllisch, am besten begleitet von einem belgischen Klosterbier. Sie unterstützen damit nicht nur eine erhaltenswerte Genusskultur, Sie tun sich auch kulinarisch etwas Unvergleichliches an. Nur nicht unbedingt – und diesen Rat sollten Sie wirklich beherzigen – als Reiseverpflegung während einer Eisenbahn- oder Busfahrt. Es sei denn, Sie sind der einzige Fahrgast.
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