Eifel: Genau wie viele andere Sagen, wurde diese Erzählung mündlich überliefert: „Das Glockenspiel auf dem Annaturme zu Düren war anfangs noch künstlicher eingerichtet als heute. Um zwölf Uhr erschienen aus einem Gehäuse die zwölf Apostel, und zwar mit jedem Schlage kam ein Apostel mehr zum Vorschein. Die Dürener waren stolz auf ihre Uhr und wollten den Ruhm dieses einzigartigen Glockenspiels für sich allein haben. Die Kölner wünschten auch gern ein solches Werk und versprachen dem Erbauer, den Weg von Düren bis Köln mit Talern als Preis zu belegen. Um ihn an dem Bau des Werkes zu hindern, blendeten die neidischen Dürener den Meister. Dieser sann auf Rache. Sein letzter Wunsch war, noch einmal an sein geliebtes Werk zu kommen, um noch eine Verbesserung vorzunehmen, die er in der Eile vergessen habe. Man traute ihm anfangs nicht. Doch willfahrte man schließlich seinem Wunsche und führte ihn auf den Annaturm. Ein Druck auf eine Feder in dem Uhrgehäuse genügte, und die zwölf Apostel kamen nicht mehr zum Vorschein. Die Dürener ließen tüchtige Meister kommen, um das Werk in Ordnung zu bringen, aber keiner war dazu imstande. Deshalb entfernte man das Gehäuse mit den zwölf Aposteln. Das vergoldete Brustbild mit den verbunden Augen im Balkongitter am Rathause stellt nach der Sage den geblendeten Meister des Anna-Glockenspiels dar.“
Eine weitere, zunächst mündlich weitergegebene und dann niedergeschriebene Überlieferung deutet die Balkonverzierung als Symbol der Gerechtigkeit:
„Das Symbol der Gerechtigkeit am Balkongitter des Dürener Rathauses stellt eine Jungfrau mit verbunden Augen dar. Vom Volke wird das Bild verschieden gedeutet. Die einen halten die Figur für das Bild des von den Dürenern geblendeten Meisters des Annaglockenspiels. So erklären es meist die Leute vom Lande. Die anderen sagen: Die Jungfrau habe die Augen verbunden, um das Elend nicht mit ansehen zu müssen, in das ein schlimmer Krieg die Stadt gestürzt habe. Andere deuten es so: Im Rathause war ehedem das Gericht. Wer es in Streitsa- chen anrufe, der sei blind und werde geschädigt, selbst wenn er auch gewinne. Endlich sagen andere: Das Gericht sah nicht nach der Person der Parteien, sondern urteilte gerecht, unbekümmert, um wen es sich handelt.“
Das Buch erschien erstmals 1911. Knapp 100 Jahre später wurde es durch Reinhild von Capitaine digitalisiert und neu veröffentlicht.
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