Eifel: Keiner konnte ihnen letztes Wochenende entkommen: Die Rufe der Kraniche waren allerorts in der Eifel zu hören, am Tage und auch in der Nacht. Wer zum Himmel blickte, sah einen Ausschnitt der zigtausend Kraniche. Was war los? EIFELON hat bei Vogelschützern nachgefragt.
„Diesen Herbst zeigen die Kraniche ungewöhnliche Zugmuster“, ordnet Dr. Günter Nowald vom Kranichschutz Deutschland die Geschehnisse ein. Relativ früh, in der zweiten Septemberhälfte, habe es erste kleinere Zugwellen mit insgesamt ein paar tausend Vögeln gegeben. Einige Kraniche seien im September sogar schon bis zu ihrem Winterquartier nach Spanien gezogen – und das, obwohl hier bei uns an der Ostseeküste in Vorpommern sommerliche Temperaturen herrschten und ausreichend Nahrung vorlag; die Maisfelder waren früh dieses Jahr abgeerntet worden. „Ich habe keine Erklärung, warum sie geflogen sind. Zu dem Zeitpunkt hätten sie es nicht nötig gehabt, alle Umweltbedingungen waren für die Kraniche zum Bleiben perfekt“, erzählt Nowald.
Im Oktober folgte ungünstiges Flugwetter: Der Himmel war gräulich bedeckt, neblig, es fehlte der bevorzugte Rückenwind. Stattdessen wehte Gegenwind aus der angepeilten Flugrichtung. Ende Oktober erst gab es – nach den Septemberfliegern – massive Zugbewegungen weg aus der Republik. „Die Tiere wollten auf einmal raus aus Deutschland. Der Winter scheint zu kommen“, vermutet der Kranichexperte. Diese Zugbewegung hielt an. Immer wieder hatten die Tiere mit starken Regenfronten und Nebel zu kämpfen, was sie am Weiterfliegen hinderte. Letztes Wochenende konnten viele Eifeler dann einen Höhepunkt des Wegzugs sehen und hören, als gefühlt mehrere tausend Exemplare über der Region kreisten und schließlich über sie wegzogen. Tags und nachts waren die Rufe der Kraniche selbst im Haus zu hören. Den Nachtflug traten kleinere Züge an, da in der Nacht ungünstige Zugbedingungen herrschen.
“So einen massiven Zug habe ich hier in der Eifel noch nie erlebt”, sagt Lutz Dalbeck, Vogelkundler bei der Biologischen Station im Kreis Düren. Den massiven Zug letztes Wochenende erklärt er sich mit dem markanten Wintereinbruch durch Temperaturen von minus acht Grad Celsius und der damit verbundenen schwierigeren Nahrungssuche kürzlich an der Ostsee, Sammelstelle der Kraniche aus Skandinavien und dem Baltikum. Er freut sich, dass die Eifel im Korridor der westlichen Zugroute von Rügen Richtung Frankreich liegt und wir Eifeler das Naturschauspiel live miterleben konnten – in der Luft oder auf den Rastplätzen mit dem nötigen Abstand, damit die scheuen Tiere nicht aufgeschreckt auffliegen und weiter Energie verlieren. Rund um Vlatten hat er die zahlreichen Kraniche beobachtet und beschreibt ihr Verhalten als “organisiertes Chaos”, das auch schon einmal orientierungslos wirken konnte. Das schlechte Wetter, Nebel, Regen, Gegenwind und die fehlende Thermik, habe die Vögel gezwungen, tiefer zu fliegen und sich einen Notschlafplatz zu suchen. Auf dem Rastplatz sei ein ständiges Kommen und Gehen zu beobachten. “Wer morgens nachschaute, sah tausend Tiere rasten, wer mittags kam, sah ebenfalls tausend Tiere rasten. Das müssen aber nicht zwangsläufig dieselben gewesen sein”, so Dalbeck. Die Tiere hätten eine “Eigendynamik” entwickelt: Die einen saßen noch erschöpft auf ihrem Rastplatz, während hunderte Kraniche bereits aufgestiegen seien, weil sie ausgeruht waren, weiterfliegen und die anderen Tiere aufgrund ihres Schwarmverhaltens ebenfalls zum Wegzug animieren wollten. Letztendlich sind die Tiere wieder weitergezogen.
Video: Günter Lessenich
Das Interessante: Einige Kraniche sind nach zweitägigem Aufenthalt in der Eifel wieder 200 Kilometer gen Norden zu ihrem vorherigen Rastgebiet geflogen, die Diepholzer Moorniederung in Niedersachsen. Dr. Günter Nowald und sein Team konnten dies anhand einer Kranichfamilie nachvollziehen, von der ein Exemplar einen GPS-Sender trägt. „Die Schlechtwetterfronten haben die Familie zum Umkehren bewegt, da die Bedingungen für eine längere Rast nicht ausreichend waren. Derzeit befinden sie sich noch immer auf dem Rastgebiet und warten besseres Zugwetter ab“, so der Ornithologe.
Seit einigen Jahren stattet Kranichschutz Deutschland Kraniche mit GPS-Sendern aus. So erhalten die Wissenschaftler Daten über Route, Rastplätze, Endziel, aber auch über Flugdauer, Geschwindigkeit und Flughöhe. Aus den Ergebnissen haben sie beispielsweise die alarmierende Erkenntnis gezogen, dass „moderne Windparks mit einer Gesamthöhe (inkl. Rotoren) von 200 m für Kraniche eine Gefahr darstellen können“, wie die Autoren im „Journal Arbeitsgemeinschaft Kranichschutz Deutschland. Das Kranichjahr 2014/2015“ schreiben. Günter Nowald ist einer der Autoren. Die Aussage beruht auf Daten eines mit GPS-Sender ausgestatteten Kranichs, der für die Hälfte der Zugzeit eine kritische Höhe erreicht hat, „bei der eine Kollision möglich wäre“. Die Autoren zitieren darüber hinaus Ergebnisse einer Studie des IFAÖ (Institut für Angewandte Ökosystemforschung GmbH) aus 2010, wonach Kraniche während 32 bis 49 Prozent der Zeit in einer kritischen Höhe geflogen sind. Um die Ergebnisse zu überprüfen, seien weitere Studien über das Zugverhalten der Kraniche nötig.
Viele Nachweise für Kollateralopfer mit Windkraftanlagen gibt es unter den Kranichen nicht. Die es gibt, sind Zufallsfunde. „Generell sehen wir das Thema Windanlagen in bestimmten Regionen besorgt“, sagt Nowald. „Die Betreiber berichten sicherlich nicht öffentlich über Anflugopfer von Vögeln und Fledermäusen.“ Es gebe zwar Auflagen, beispielsweise dass die Anlagen zur Zeit des Kranichfluges abgeschaltet werden müssen, „durch die sich die Windenergielobby Schlupflöcher für den Bau und Betrieb der Windkraftanlagen geschaffen hat“. Aber: „Wer sagt, wann die Anlagen abgeschaltet werden, und wer kontrolliert dies? Eine geeignete Methode beziehungsweise ein geeignetes System ist noch nicht entwickelt“, gibt Nowald zu bedenken. Der Kranichschutz Deutschland würde so ein System unterstützen.
Auch Ralf Wilke vom NABU Kreisverband Euskirchen fordert ein einheitliches Abschaltsystem, das rechtzeitig in Kraft tritt, wenn mehrere große Züge angeflogen kommen, um mögliche Kollateralschäden zu vermeiden. „Letztes Wochenende habe ich einen Trupp Kraniche aus Richtung Schleiden fliegen sehen, während sich die Windräder weiter gedreht haben.“ Allerdings sind dem Naturschutzbund bis dato keine Todfunde von Kranichen unter Windkraftanlagen aus jüngster Zeit bekannt. Dennoch bittet der NABU Euskirchen Spaziergänger, auf verletzte oder getötete Vögel in der Nähe von Windrädern zu achten, sie zu fotografieren und diese der Polizei zu melden.Neben der Gefahr von Kollateralschäden bei Schlechtwetterlagen spricht er noch einen anderen Kritikpunkt an der zunehmenden Industrialisierung der Eifeler Landschaft durch die Windräder an: Sie bedeute einen enormen Energieverlust für die Kraniche, den sie nur schwer auf ihrer Reise ausgleichen könnten: Kraniche fliegen nicht fokussiert in einer Linie, sondern bilden einen breiten Zug. Liegt auf ihrer Route ein Windrad, weichen sie ihm aus, indem sie links oder rechts daran vorbeifliegen, wenn sie nicht wie bei guter Thermik über ihm hinweg gleiten können. Das Ausweichmanöver bedeute für die Vögel einen enormen Kräfteverlust, da der energiesparende Kettenflug aufgerissen werden müsse. Vereinzelte schwächere Tiere und unerfahrene Jungvögel fänden nicht immer in die Kette wieder zurück. Nicht alle Vögel erreichten ihr Endziel. Außerdem fragt sich Wilke: „Wohin sollen Kraniche auf ihrem Zug über die Eifel noch ausweichen, wenn sie einem Windrad begegnen? Links und rechts von einer Anlage steht bereits die nächste.“ Die Nord- und Südeifel, Teil der Hauptzugroute der Kraniche, ist zunehmend voll gebaut mit Windrädern, auch oder gerade auf den Höhenzügen. Das Problem betrifft nicht nur Kraniche, sondern viele andere Vogel- und Tierarten wie Rotmilan und Fledermaus. „Wir stehen vor einer weit reichenden Entscheidung“, sagt Wilke. „Wollen wir die Natur, so wie sie ist, für die nächsten zwei bis drei Generationen erhalten, oder gehen wir das Risiko eines Rückgangs der Artenvielfalt in Deutschland ein?“
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