Heimbach: Der himmelblaue „Deutschkoffer“ von Marcus Rachuy ist prall gefüllt – mit Unmengen von Fotokopien, Arbeitsblättern, türkischen, arabischen und albanischen Wörterbüchern. Ganz oben eine Seite, auf der in acht Sprachen – von Arabisch, über Bengali, bis hin zu Persisch und Türkisch – vermerkt ist, dass Deutschkurse für Flüchtlinge und Asylanten seit Mai nun zweimal in der Woche stattfinden. Jeweils dienstags und donnerstags von 10.00 bis 12.00 Uhr. „Sobald ein Flüchtling nach Heimbach kommt, wird er auf dieses Angebot aufmerksam gemacht“, erläutert Marcus Rachuy, der mit seinem silbergrauen Kinnbart und der turbanähnlichen Mütze selbst ein wenig fremdländisch wirkt. „Nein, nein“, winkt er schmunzelnd ab, „ich komme aus Arnoldsweiler.“ Doch sein Abenteuer-Gen hat den 48-Jährigen in die ganze Welt geführt.
Wie schwierig es sein kann, sich in einem fremden Land zurechtzufinden, hat Marcus Rachuy häufig genug erlebt. „1989 wollte ich einen langjährigen Brieffreund in Algerien besuchen und während der Zugfahrt durchs Land hatte ich nur seinen handgeschriebenen Zettel als Wegweiser. Bei jeder Station verglich ich diese merkwürdigen Schriftzeichen mit den Stationsschildern, um festzustellen, ob ich hier aussteigen muss. In genau der gleichen Situation sind nun viele der syrischen Kriegsflüchtlinge. Sie müssen erst einmal unser Alphabet lernen, um unsere Schrift entziffern zu können.“
Seine ersten Lebensjahre verbrachte Marcus Rachuy in Arnoldsweiler, doch ab dem fünften Schuljahr besuchte er ein Internat im belgischen St. Vith. Nach seiner Ausbildung zum staatlich geprüften Landwirt kümmerte er sich drei Jahre um die Optimierung der Milchviehfütterung in Luxemburg. Über Freunde in Brüssel fand er anschließend einen Job in Zentralafrika. In den 1990er Jahren betreute er die Landwirtschaft rund um eine Kupfermine im Kongo. „Damals gab es in dem Land eine hohe Inflation, deshalb wurden die Minenarbeiter dort in Naturalien bezahlt, und ich baute Mais und Bohnen an“, erinnert sich der Abenteurer. Doch als erneut ein Bürgerkrieg ausbrach, packte er schleunigst seine Sachen und kam nach Arnoldsweiler zurück. Seine nächste Station war eine Farm in Schottland. Zweieinhalb Jahre kümmerte er sich dort um Vieh, Haus und Hof, bis der Farmbesitzer an Krebs erkrankte und Rachuy seine Stelle verlor.
Danach arbeitete er zwölf Jahre bei einem Blumenimporteur in Amsterdam. Kein Wunder also, dass er viele Sprachen fließend spricht. Doch auch er rutschte in die Arbeitslosigkeit, wurde Hartz IV-Empfänger, packte als „Ein-Euro-Jobber“ im Heimbacher Bauhof mit an und arbeitet nun mit einem Mini-Job im Hergartener Nationalparkgästehaus. Den Arbeitskollegen blieben seine Fremdsprachkenntnisse nicht verborgen. „Eines Tages kam aus dem Rathaus die Anfrage, ob ich bei einem algerischen Flüchtling dolmetschen könne“, erinnert sich Rachuy. „Und seitdem gebe ich Deutschkurse.“
Sein unkonventioneller, praxisorientierter Unterricht findet nicht in irgendeinem Hinterzimmer statt, sondern im Sitzungssaal des neuen Heimbacher Rathauses. Doch statt sture Grammatik zu büffeln, bringt Marcus Rachuy den Flüchtlingen hier ganz lebensnahe, alltagstaugliche Dinge bei: Immer das aktuelle Datum im Kopf erklärt er anhand eines kleinen Taschenkalenders Worte wie „heute“, „gestern“ oder „übermorgen“. Eine bunte Kopie mit grünen, gelben und blauen Luftballons, in die die einzelnen Farben geschrieben sind, verdeutlicht weitere Vokabeln.
„Vor kurzem haben wir über die Worte ‚Bügel‘ und ‚Eisen‘ diskutiert. Je nachdem, wie man sie zusammensetzt, entstehen völlig andere Begriffe“, versucht Rachuy die Probleme seiner Schützlinge zu erklären.
Damit sich die Flüchtlinge in der Fremde orientieren können, tüffelt Marcus Rachuy momentan an einem allgemein verständlichen Heimbacher Stadtplan. Einfache Symbole sollen zeigen, wo die Neubürger das Rathaus, den Supermarkt, Zahnarzt oder die Apotheke finden. „So können sie sich auch ohne fortgeschrittene Sprachkenntnisse in der Stadt orientieren.“ Ein roter Punkt markiert jeweils die Adresse, an denen die Flüchtlinge ein neues Zuhause gefunden haben.
„So lange wie möglich wollen wir bei der dezentralen Unterbringung bleiben“, betont Bürgermeister Peter Cremer und appelliert an die Hausbesitzer, privaten Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Von der Eigeninitiative des Weltenbummlers Marcus Rachuy ist er begeistert: „Wir sind dankbar für sein Engagement und tun alles, um ihn zu unterstützen.“
Nächste Woche werden in der kleinsten Stadt NRWs vielleicht schon neue Schüler vor dem ungewöhnlichen Deutschlehrer sitzen, denn die Zahl der Flüchtlinge steigt.
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