Umland: Kurz vor Weihnachten platzte die Bombe: Das Oberverwaltungsgericht (OVG) in Münster stoppte den Bau eines Windparks auf dem Gelände der Gemeinde Swisttal. Dabei handelt es sich nicht um eine Planung, die unterbrochen wurde, sondern ganz konkret um ein im Bau befindliches Projekt in Swisttal–Odendorf. Vier 75 Meter hohe Windräder können nun nicht fertiggestellt werden und ragen als Technologie-Ruine in den grauen Winterhimmel. Das OVG Münster hat die Errichtung der Windenergieanlagen vorläufig gestoppt, weil die erforderliche Umweltverträglichkeits-Vorprüfung nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden ist.
Auf Antrag der Gemeinde Swisttal hat das Oberverwaltungsgericht die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Köln abgeändert und die aufschiebende Wirkung der gegen die Genehmigung gerichteten Klage wiederhergestellt. Nach Auffassung des OVGs ergibt eine Interessenabwägung, dass das Interesse der Betreiberfirma Enercon an der Errichtung der Windanlagen einstweilen zurückstehen muss. Bau und Betrieb der Anlagen ohne ordnungsgemäße Umweltverträglichkeits-Vorprüfung seien „europarechtswidrig“. Ein Weiterbau käme erst in Frage, wenn die Umweltverträglichkeits-Vorprüfung nachgeholt und dabei das Grauammer-Vorkommen berücksichtigt worden sei.
Zu Beginn des Genehmigungsverfahrens hatte die zuständige Bezirksregierung in Köln keine besonders schützenswerten Tiere in dem geplanten Baubereich angenommen. Sie verzichtete daher auf die Durchführung einer detaillierten Umweltverträglichkeitsprüfung. An dieser Ansicht konnten auch zahlreiche Gutachten, die an dem geplanten Bauplatz mehrere Brutplätze der streng geschützten und fast ausgestorbenen Grauammer nachwiesen, nichts ändern. Die Bezirksregierung blieb bei ihrer Einschätzung und fühlte sich damit im Recht.
Von der Grauammer, einem drosselgroßen Bodenbrüter, gibt es in Nordrhein-Westfalen nur noch ganz wenige Brutpaare, der Vogel ist massiv vom Aussterben bedroht. „Die Grauammer wird im Vergleich zu anderen Singvögeln häufiger Opfer von Windenergieanlagen“, heißt es im OVG-Beschluss. „Sie kollidiert mit dem Mast, teilweise aber auch mit den sich drehenden Rotorblättern.“ In dem Beschluss verweist das OVG ausdrücklich darauf, dass das Ignorieren der vorliegenden Gutachten zur Grauammer-Population durch das Verwaltungsgericht als „europarechtswidrig“ einzustufen sei.
Das Rechtsverständnis des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) unterscheidet sich in diesem Punkt grundlegend von der bisherigen deutschen Rechtsauffassung. Damit kommt bei dieser OVG-Entscheidung das neue EuGH Urteil vom 15. Oktober zum Tragen, in dem die Rechte der Betroffenen und Umweltverbände gegenüber der bisherigen deutschen Rechtspraxis gestärkt werden.
Nach Ansicht des EuGH ist die bisherige Rechtspraxis in Deutschland beim Umweltschutz in Verwaltungsrechtsverfahren viel zu restriktiv. In Deutschland erhielt bisher Rechtsschutz vor Gericht nur der, der gleichzeitig geltend machen kann, in seinen eigenen persönlichen Rechten verletzt worden zu sein. Eine solche persönliche Rechtsverletzung ist vor deutschen Gerichten wesentliche Voraussetzung dafür, dass ein Verwaltungsgericht eine Klage überhaupt zulässt.
Das bedeutet wiederum, dass Bürger bisher keine Klagebefugnis hatten, wenn Allgemeininteressen wie z. B. der Naturschutz bedroht waren. Problematisch – und damit unzulässig – ist es für den EuGH, dass das deutsche Recht auch Klagen von Umweltverbänden derart beschränkt. Umweltverbänden muss es, nach Ansicht des EuGH, über den Einzelfall hinaus möglich sein, die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung anzufechten.
Auch eine weitere Praxis im deutschen Verwaltungsrecht kritisiert der europäische Gerichtshof als nicht zulässig: Gerichte in Deutschland müssen bisher nur solche Einwendungen berücksichtigen, die die Parteien eines Rechtsstreits bereits im vorgelagerten Verwaltungsverfahren kritisiert hatten. Einwendungen, die erst bei Gericht das erste Mal erhoben wurden, mussten bei der Gerichtsentscheidung nicht berücksichtigt werden. Das sollte die Beteiligten dazu zwingen, ihre Einwände gegen eine Entscheidung möglichst frühzeitig mitzuteilen, um so im Vorfeld bereits darauf reagieren zu können.
Auch diese Einschränkung im Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz hält der EuGH in seinem Urteil vom 15. Oktober 2015 für falsch und nicht mit den EU-Richtlinien konform. Beschränkt dieses Gesetz doch die Klagemöglichkeiten von Naturschutz- und Umweltverbänden nach der Aarhus Konvention. Eine solche Einschränkung stehe nicht im Einklang mit dem Ziel einer umfassenden, gerichtlichen Kontrolle im Vorfeld getroffener Entscheidungen, befindet der Europäische Gerichtshof. Nach Vorgabe des EuGH muss nun ein Verwaltungsgericht auch erstmals im Verfahren vorgebrachte Beschwerden bei seiner Entscheidung berücksichtigen und kann nicht mit Hinweis auf das Vorverfahren Argumente der Kläger ignorieren.
Für das Verfahren um die Windräder von Swisttal bedeutet das, dass eine Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) erst einmal nachgeholt werden muss. So lange steht die Baustelle still. Sollte die UVP zugunsten der Grauammer ausgehen, kommt auch ein Rückbau der Anlagen an diesem Standort in Frage. Darüber wird aber erst im anhängigen Hauptverfahren entschieden.
weitere Informationen:
Pressemitteilung OVG Münster:
http://www.ovg.nrw.de/behoerde/presse/pressemitteilungen/01_archiv/2015/58_151222/index.php
EuGH, Urteil v.15.10.2015 – C-137/14
http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=169823&pageIndex=0&doclang=DE&mode=req&dir=&occ=first&part=1
Interpretation: EuGH Urteil verbessert Umweltrechtsschutz in Deutschland:
http://jean-monnet-saar.eu/?p=959
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